
WOHNMODELLE FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
In einer Zeit von Wohnungsnot, Klimakrise und sozialer Spaltung wird deutlich: Die Architektur allein kann keine Wunder bewirken – aber sie kann Strukturen schaffen, in denen Fürsorge, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit möglich sind. Architecture of Care nennt sich ein neues Paradigma, das Wohnräume nicht nur nach Quadratmetern denkt, sondern nach Bedürfnissen. Und das erinnert nicht zufällig an ein Jahrhundertprojekt aus Frankfurt: das Neue Frankfurt.
Denn schon in den 1920er-Jahren entwarfen Architekt:innen unter Ernst May mehr als Wohnungen. Sie planten ein soziales Wohnmodell – mit Licht, Luft, Grün und einem klaren Bekenntnis zum Gemeinwohl. Heute, 100 Jahre später, steht die Frage im Raum: Was können wir von damals lernen – und was müssen wir neu denken?
WOHNEN ALS SOZIALE INFRASTRUKTUR
„Wohnen ist ein Menschenrecht, kein Marktprodukt“ – dieser Satz ist in vielen europäischen Städten zur Parole geworden. Angesichts steigender Mieten und fehlender Sozialwohnungen wird immer deutlicher: Das Zuhause ist der Ort, an dem sich soziale Ungleichheiten verdichten oder aufbrechen lassen.
Die Architektur der Fürsorge denkt Wohnen nicht nur funktional, sondern relational: Sie stellt Fragen wie – Wer sorgt für wen? Wie leben Alleinerziehende, Pflegebedürftige, queere Gemeinschaften, ältere Menschen, Studierende oder Menschen mit prekären Biografien? Und wie können Räume das Miteinander unterstützen?
DAS ERBE DES NEUEN FRANKFURTS
Schon Ernst May und seine Mitstreiter:innen gingen über das reine Bauen hinaus: Sie konzipierten Kindergärten, Schulen, Sportstätten, Wäschereien, Reformküchen, Gemeinschaftsflächen. Die berühmte „Frankfurter Küche“ von Margarete Schütte-Lihotzky war nicht nur effizient, sondern eine frühe Antwort auf Care-Arbeit und weibliche Emanzipation im Wohnraum.
Die Zeilenbauten mit viel Licht, Lüftung und Freiraum reflektierten nicht nur hygienische und technische Standards – sie waren ein gestalteter Ausdruck sozialer Fürsorge. Heute würde man sagen: Architecture of Care.
NEUE WOHNFORMEN – NEUE MÖGLICHKEITEN
In ganz Europa entstehen derzeit neue Wohnmodelle, die diese Haltung aufgreifen – und weiterentwickeln:
Kooperative Wohnprojekte wie R50 in Berlin oder Kalkbreite in Zürich verbinden bezahlbaren Wohnraum mit geteilten Flächen, Gästewohnungen, Werkstätten und solidarischer Verwaltung.
Multigenerationenhäuser, Pflege-WGs oder gemeinschaftsorientierte Quartiere wie das Baugruppen-Modell in Tübingen fördern soziale Resilienz im Alter – und entlasten pflegende Angehörige.
Feministische Planungsbüros entwickeln Konzepte für Alltagsgerechtigkeit, inklusive Sicherheit, Barrierefreiheit und geschlechtergerechte Gestaltung von Wegen, Plätzen und privaten Räumen.
Open Source Design und zirkuläres Bauen machen Bauprozesse demokratischer, ökologischer – und widerstandsfähiger gegenüber Krisen.
WAS BRAUCHT DIE ARCHITECTURE OF CARE HEUTE?
Politischen Mut: Wohnbau darf nicht länger der reinen Marktlogik folgen. Es braucht klare Förderprogramme, Zugang zu städtischem Boden und gemeinwohlorientierte Bauherrenmodelle.
Planung von unten: Bewohner:innen müssen Mitgestalter:innen werden. Partizipation ist kein Bonus – sondern essenziell für tragfähige, diverse Gemeinschaften.
Interdisziplinäre Ansätze: Stadtplanung, Pflegewissenschaft, Soziologie, Gender Studies und Architektur müssen enger zusammenarbeiten. Nur so entsteht Wohnraum, der realen Bedürfnissen entspricht.
Pflege der Zwischenräume: Care findet oft im Unsichtbaren statt – im Flur, auf der Bank vor dem Haus, in der geteilten Küche. Räume der Fürsorge brauchen Flexibilität, Zeit und Gestaltungswillen.
FAZIT: CARE IST DAS NEUE COOL
Wenn das Neue Frankfurt gezeigt hat, was soziale Architektur leisten kann, dann ist jetzt die Zeit, diese Idee neu zu codieren: feministischer, ökologischer, inklusiver. Care bedeutet nicht Rückschritt – sondern Fortschritt. Nicht Einschränkung, sondern Freiraum. Eine Stadt, die sich um ihre Menschen kümmert, schafft echte Resilienz. Und das ist vielleicht die wichtigste Zukunftsressource.